José und das Baby, Bundesstaat Oaxaca

Wie kommt man zu einem Baby?

Berni und ich sitzen am Frühstückstisch von José und seiner Familie. Es ist etwa acht Uhr am Morgen. Zwei seiner drei Söhne sind bereits in der Schule. José ist selber Lehrer. Und eigentlich wäre er auch schon längst im Unterricht, aber seit zwei Tagen streiken die Lehrer im ganzen Land.

Streikende Lehrer

Wir kamen ebenfalls schon in den Genuss dieses Streiks. Zweimal wurde unsere Straße blockiert. Wir sahen einen Omnibus und viele Menschen auf der Straße, die die Autofahrer am Weiterfahren hinderten. Es gab keine Polizei und auch kein Militäraufgebot. Offenbar ist es hier nicht die Sache des Staates einzugreifen. Wir folgten den anderen Autofahrern kreuz und quer durch staubige Nebenstraßen um hinter der Blockade die Bundesstraße weiter zu benutzen. „Heute sind ebenfalls Blockaden vorgesehen, aber nicht auf euerer Strecke.“, meint José. Er ist nicht dabei, vielleicht weil er Besuch hat? Wir möchten ihn nicht in Verlegenheit bringen und fragen lieber nicht. Denn der Besuch sind wir.

Mexikanisches Frühstück 

Auf meinem Teller befinden sich zwei Spiegeleiern, eine, in Längsscheiben geschnittene, gebratene Banane mit weißer Mayo Sauce und Reibekäse, und pikantes Bohnenmus. Dazu werden Tortillas und paniertes Brot gereicht. Und natürlich eine Tasse Kaffee. Das Frühstück gleicht in keinster Weise einem deutschen Frühstück. Ich frage, ob das etwas Besonderes ist, weil wir Gäste sind. „Nein,“, meint seine Frau, „das gibt es immer. Was frühstücken denn die Deutschen?“.

Private Unterkunft 

José bietet Fahrradfahrern und Van-Reisenden einen Zelt- und Stellplatz auf seinem Grundstück an. Das tut Not, denn in Richtung der Grenze zu Guatemala sieht es mit Übernachtungsmöglichkeiten -dünn- aus. Gestern Abend kamen wir an und José empfing uns sehr offen und warmherzig. Wir saßen noch lange zusammen mit seiner Frau in seinem schönen Garten und sahen die Sonne untergehen. José grüßte jeden, der vorbeikam. Er ist Lehrer und allseits bekannt. Aber ich glaube, das ist es nicht allein. José und seine Frau haben eine tolle Ausstrahlung.

Ein mexikanischer Junge in Texas

Während des Studiums verbrachte José ein Jahr in den USA und lernte so englisch. Er war nicht unbedingt erpicht darauf gewesen, aber seine amerikanischen Freunde drängten ihn dazu. Englisch sei wichtig, meinten sie und die Universität bot Kontakte an. Also flog er eines Tages nach Texas und zog in eins von zwei verlassenen Kinderzimmer einer amerikanischen Familie. Er konnte kein Wort Englisch. Ich denke, die positive Ausstrahlung hatte er schon immer, denn die Familie nahm ihn an wie ihr drittes Kind. Er spricht von seinen Adoptiveltern. José zeigt mir ein Foto: Darauf ist ein kleiner Altar abgelichtet. Er zeigt auf die drei eingerahmten Bilder darauf. Es sind seine Eltern und in der Mitte sein amerikanischer Vater. Der Altar ist für den Día del Muertes geschmückt. Alles, was die Liebsten zu Lebzeiten gerne mochten, ist vorhanden. José schaut das Bild zärtlich an.
Dann zeigt er mir ein anderes Bild: Es zeigt ihn mit seiner zwei Jahre älteren Schwester und ein deutlich jüngeres Mädchen. Er zeigt mit dem Finger darauf. “Das ist meine Adoptivschwester.“, meint er und wirkt ein bisschen stolz. Ich bin verwirrt. Adoptiveltern, Adoptivschwester? Was nun?

José und das Baby

„Weißt du, ich war etwa 10 Jahre alt und mit meiner zwei Jahre älteren Schwester in einer Cantina (eine Markhalle in der man sehr günstig essen kann). Eine der Frauen, die dort arbeiteten, war eine ganz arme Frau. Sie hatte ein Baby, etwa 1 Jahr und 2 Monate alt. Ich spielte ein bisschen mit dem Kind und die Frau fragte mich: „Willst du eine kleine Schwester?“. Ich sagte: „Oh ja!“. Meine Schwester war ebenfalls begeistert. Wir brachten das Baby nach Hause. Ich sagte zu meiner Mutter: „Mama, schau, ich habe eine neue Schwester. Darf ich sie behalten?“. Meine Mutter sah sich das Baby an und sagt dann: „Ja.“. Einfach so. Meine Großmutter jedoch sah mich mit dem Baby und schrie: „Was ist das?“. Ich sagte: „Das ist ein Baby und sie ist meine neue Schwester … .“. „Bring sie sofort zurück!“, fiel sie mir ins Wort. Ich fing an zu weinen: „Aber Mama hat -ja- gesagt.“. „Bring sie sofort zurück!“, schrie sie. Erst als meine Schwester ebenfalls das Baby guthieß, fühlte sie sich überstimmt. 

Das Baby durfte bleiben

Als ich am nächsten Tag in der Cantina vorbeikam, fragte mich die Frau: „Wie geht es dem Baby?“. Ich sagte: „Gut!“. Und so war es auch. Meine kleine Schwester war von Anfang an ein zufriedenes und liebes Kind. Später bemühten sich meine Eltern um Adoptionspapiere. Aber meine Schwester und ich fühlten uns immer verantwortlich für sie. Als wir unser erstes Geld verdienten, schickten wir einen Anteil für sie nach Hause. Sie sollte eine gute Schulbildung bekommen. Heute lebt sie in Oaxaca. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne. Einer ist Arzt und der andere Anwalt.“. José ist zu Recht stolz. 

Ein ganz besonderer Mensch

Ich bin sprachlos. Was für eine Geschichte! Tausend Gedanken rasen durch meinen Kopf. Ich sehe den einstigen Jungen in meinem Herzen und frage ihn, ob ich die Geschichte aufschreiben darf? „Ja.“, sagt er, „Aber ändere bitte meinen Namen. Man weiß nie, und ich möchte meiner kleinen Schwester nicht wehtun.“. Ich schaue ihm tief in die Augen: Er hat als 10-jähriger Junge eine Entscheidung gefällt und steht .noch heute dazu. Er ist für seine kleine Schwester verantwortlich, solange er lebt.