Ein Leben wie eine Achterbahn – Franz, Don Taco, Bahia San Agustin

Spinale Muskelatrophie

Franz wuchs in einer kleinen holländischen Stadt im Süden des Landes auf. Sein Vater war der Direktor der ortsansässigen Schuhfabrik. Die Familie war angesehen. Sie waren im Ort allseits bekannt. Aber es lag ein Schatten über der Familie. Es gab eine Erbkrankheit. Eine Krankheit, die nach einem halben Jahr ihr tragisches Ende fand. „Streckst du einem Baby den Finger in die Hand, wird es ihn umfassen. Tut es das nicht oder nur schwach, wußten wir, was los ist… “, er räuspert sich. Die Säuglinge entwickelten eine sogenannte Hühnerbrust. Die Nervenbahnen starben langsam ab. Das Kind bekam Atemnot und letztlich einen Herzstillstand. Er hat drei Schwestern auf diese Weise verloren. Es war eine schwierige Zeit. Er schweigt einen Moment. „Aber so war es einfach, was willst du machen?“.  Die Erinnerung nimmt ihn sichtlich mit.

Diagnose: Kindliches Rheuma

Als Franz fünf Jahre alt war, bemerkte seine Mutter ungewöhnliches an ihm: Ihr zweiter Sohn braucht morgens eine halbe Stunde um sich zu sortieren. Er stand aus dem Bett auf wie ein alter Mann. Der Zustand hielt an. Sie ging zu ihrem Hausarzt, aber er glaubte ihr nicht. Er hielt sie für überempfindlich. Wer mag es ihr verübeln? Nach dem Tod ihrer Babies! Schließlich wurde er im Krankenhaus untersucht. Die Ärzte stellten als Diagnose kindliches Rheuma fest. Zunächst hieß es, er käme nächste Woche wieder nach Hause. Dann hieß es nächsten Monat. Später hieß es nächstes Jahr. Mit viel Glück. Vielleicht.

Fünf Jahre Krankenhaus 

 „Es was eine schlechte Zeit“, sagt er und rechnet, „Ich war zehn Jahre alt, als ich endgültig wieder herauskam.“. Er ging im Krankenhaus in die Schule. Da er alle zwei bzw. vier Stunden eine Spritze bekam,  lag er allein auf einem Zimmer. Es hätte die anderen Kinder gestört. Durch die Nebenwirkungen der schweren Medikamente bekam er Herzprobleme. „Ich verließ das Krankenhaus mit meinem Rollstuhl.“ Auf meine Frage, wie er es schaffte wieder laufen zu lernen, sagt er „Ich habe es nicht akzeptiert. Die Leute dachten, weil ich im Rollstuhl sitze, wäre ich behindert. Sie schrien mich an oder hielten mich für dumm. Es war schlimm. Ich habe nicht so trainiert, wie der Physiotherapeut wollte…“, Franz schüttelt den Kopf, „ Ich habe mich darüber hinweggesetzt. Ich war keine Null, ich wollte besser sein. Aber es hat schon einige Jahre gedauert.“

Ein neuer Schlag: Die Scheidung seiner Eltern 

Als er zwölf Jahre alt war, ließen sich seine Eltern scheiden. Es folgte ein sozialer Abstieg. Seine Mutter und seine Geschwister mussten aus dem Haus mit den goldenen Wasserhähnen in ein winziges Haus umziehen. Sie waren plötzlich arm. Seine Mutter erhielt Unterstützung von der Gemeinde. Franz kam mit der Situation nicht zurecht. Schule interessierte ihn zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht mehr. 

Urteil: Schwererziehbar

Mit zwölfeinhalb Jahren schickte ihn seine Mutter in ein katholisches Internat für schwer erziehbare Kinder. Da war er gerade mal zweieinhalbe Jahre zuhause gewesen. Sie meinte es gut, aber Franz war tief verletzt. Er konnte die Schmach nicht vergessen, wie ihr Pfarrer seine Mutter und ihre Kinder wegschickte, weil sie als geschiedene Frau am Gottesdienst nicht teilhaben durfte. Er rebellierte gegen die religiöse Ausrichtung des Internat und gewann: Nach drei Monaten wurde er als unbelehrbar wieder nach Hause geschickt. Mit vierzehneinhalb beendete er die verhasste Schule. 

Bekleidung 

Die Familie brauchte das Geld also fing er bei einem Violinenbauer an zu arbeiten. Aber das Geld reichte hinten und vorne nicht. Da begann er in der Konfektionsanteilung einer großen Bekleidungsindustrie zu arbeiten. „Da bin ich mein ganzes Leben geblieben.“ meint er nachdenklich. 

Konfektion

Nach sieben Monaten war die Fabrik pleite. Franz sitzt vor mir und erzählt mir seine Geschichte mit ruhiger Stimme. „So war das.“, meint er. Aber ich bin sprachlos. So viel Unglück kann doch einfach nicht sein! „In der Bekleidungsindustrie war das normal“. Die Billig-Konkurrenz aus dem Ausland vernichtete die herkömmlichen Industrien. Franz wechselte zu einem großen Konzern nach Amsterdam. Als Vertreter für die holländische Konfektionsindustrie wurde er in das ehemalige Jugoslawien geschickt. „Was heißt das?“, will ich wissen.

Zeit

Franz hat Zeit ausgehandelt. Zeit, die benötigt wird um die verschiedenen Kollektionen verschiedener Bekleidungsfirmen in den jugoslawischen Industrien fertigen zu lassen. „Das war schwierig“, sagt er, „das Land wurde noch von Tito geführt. Es saßen Führungskräfte aufgrund ihrer Beziehungen in Positionen, von denen sie keine Ahnung hatten. Aber wenn du die Spielregeln kanntest, konntest du für wenig Geld viel bekommen.“ Franz lernte sie schnell. Er war gut. In einer Zeit ohne Zoom Meetings pendelte er zwischen Jugoslawien und Holland. Eine Woche zuhause, zwei Wochen in Jugoslawien. „Das habe ich, denke ich, neun Jahre gemacht“, rechnet er. Da bekam er das Angebot für einen anderen Chef des Unternehmen, die Kontakte in Jugoslawien, Rumänien und Albanien aufzubauen. Die Bezahlung war gut, also wechselte er. Es war ein rasantes Leben, das er führte. Nach drei Jahren warb ihn ein weiterer Chef ab und er baute dessen Kontakte in der gesamten Türkei auf. 

Billigmode in den Niederlanden

Schließlich kehrte er in die Niederlanden zurück. Ein neues Projekt lockte: Holländische Billigmode produziert im eigenen Land. Zu diesem Zeitpunkt lernte er seine Frau Anneke kennen. Sie war die Direktorin für Technik und Design, er der Direktor für die Produktion. Sie wurden ein Paar. „Es war nicht immer leicht, weil ich ihr Chef war.“, er wirft ihr einen Blick zu. Als sie zusammenzogen, wehrte sich die Firmenleitung: Sie hätten als Paar zu viel Macht im Unternehmen. Einer von beiden solle gehen. Sie gingen beide. 

Oilily – Kindermode

Franz war inzwischen in der Branche bekannt. „Es sind immer dieselben Leute mit denen du zu tun hast“, sagt er, „Man kennt sich.“. Kurz darauf erhielten sie ein Angebot für die Kindermarke Oilily zu arbeiten. Die Firma steckte damals noch in den Kinderschuhen. Sie produzierte in Indien und hatte ein Problem: „Die Ware wurde nicht pünktlich geliefert und es fehlten die Knöpfe oder ein ganzer Ärmel…“ Es war immer etwas zu beanstanden. Kurz: Sie boten Franz und Anneke an, die Produktion und Technik in Indien zu übernehmen. Das Paar flog für fünf Tage nach Indien und schaute sich um. Sie waren schockiert. Franz erinnert sich noch gut an das Gespräch mit seinem Chef, als er zurückkam: „Na ja, wo wir leben, wo wir sind, ist egal. Aber es ist eigentlich unmöglich, was du willst. Ich kann es versuchen, aber es geht nicht in einem Jahr. Man braucht mindestens zwei oder drei.“ Sein Chef sagte sagte: „O.K., versuch’s mal!“.

Indien

Am 05.05.1988 flogen sie nach Indien. In den folgenden Jahren bauten sie für die Marke O‘Lilly Kindermode mit einer sehr hohen Qualität auf. Verschiedene Fabriken in Indien arbeiteten auf Zeitbasis für sie. Sie produzierten 75 % des Umsatzes. Der Gewinn stieg in ihrer Zeit von 1 Million auf 68 Millionen. Die Marke wuchs und wuchs. Franz und Anneka bewohnten ein herrliches Haus mit Garten. Sie beschäftigten einen Koch, Gärtner, Privatchauffeure und einen Security Dienst. Aber das sei in Indien nicht abnormal. „Wir hatten alles, nur keine Zeit“, sagt er, „Wir haben von morgens um 7:00 Uhr bis abends um 22:00 Uhr gearbeitet.“ Als die Firmenleitung einen indischen CEO für den Standort Indien festlegte, kündigten sie bei Oilily.

Selbstständig 

Das Paar machte sich selbstständig. „Wie habt ihr das angestellt?, frage ich naiv, während ich mir in meiner Phantasie einen exklusiven Laden mit hochwertiger Kindermode handmade by Anneka vorstelle. „Nein, so funktioniert das in der Konfektion nicht“, berichtigt er meine Gedanken. Kaum wurde bekannt, dass das Paar gekündigt hatte, meldete sich die Konkurrenz. Sie waren vom ersten Tag an ausgebucht. Die Entwürfe kamen von den verschiedenen Firmen, Anneka setzte sie in Schnittmuster um und fertigte Musterteile. Franz berechnete die Herstellungskosten und die Lieferzeiten. Dann gingen die Einzelstücke zurück zu den verschiedenen Marken. Nach den Korrekturen konnte die Produktion starten. Franz jonglierte zwischen den Nähereien in ganz Indien. Er kaufte die Minuten für die Fertigung einer Kollektion. Das heißt ein und dieselbe Näherei produzierte unter Umständen gleichzeitig auch für die Konkurrenz. In Indien nähen an einer Maschine übrigens die Männer und eigentlich nur Moslems. Frauen fertigen im Gegensatz dazu die Handarbeit. Franz überwachte anschließend die Einhaltung der Termine und die Qualität. Und das für zehn oder zwölf Firmen gleichzeitig. Eine Mammut Aufgabe! Es hatte seinen Preis. Franz und Anneka sahen sich auf den Flughäfen um Termine abzusprechen. Es war ein stressiges Leben. Immer unter Druck. 

Allein

Mit neunundfünfzig Jahren war Franz körperlich und nervlich am Ende. „Meine Frau hat mich weggeschickt!“, sagt er und wirkt plötzlich müde. Ich lache auf: „Nach dem Motto: Die Firma oder ich?“. „Nein, nur aus der Firma…“, berichtigt sie schmunzelnd. Anneke hat den Betrieb für die nächsten zehn Jahre übernommen, während er in Spanien lebte. Dort hatten sie sich ein Haus gekauft, wenn sie wieder nach Europa zurückkommen. Denn für immer in Indien bleiben, kam für sie nicht in Frage. Das Paar war das Getrenntsein gewöhnt. Später fing Franz an im Wohnmobil durch Canada, USA und Mexiko zu reisen. Anneke begleitete ihn für drei Monate und kehrte dann wieder für drei Monate nach Indien zurück. „Das war bestimmt hart“, stelle ich fest. „ Nein, nein“, sagt er, „nur mit dem Kochen hatte ich Probleme. Ich lasse sogar das Wasser anbrennen…“. Und lacht.

Mexiko

Mit neunundfünfig Jahren hörte Anneke ebenfalls auf zu arbeiten. „Ab da war meine Frau jeden Tag dabei.“ Irgendwann landeten sie in San Agustin. Es gefiel ihnen hier. Da schlug er seiner Frau vor, für immer hier zu bleiben: „Wir haben immer gesagt: Ja, wenn wir in Pension sind, wollen wir am Strand leben. Dafür haben wir so hart gearbeitet… Schau, es ist alles hier! Was möchtest du noch mehr? Und die Mexikaner sind gute Leute ….“. Da sagte sie: „Ja!“.  Beide hatten den Bezug zu ihrer Heimat längst verloren. Ich werfe ein, dass es Gerüchte gäbe, es wäre nicht einfach als Ausländer in Mexiko Grund und Boden zu erwerben. Er winkt ab. „Ich kann nicht für ganz Mexiko sprechen, aber ich würde sagen in 80% der Fälle ist es möglich. Ohne Schwierigkeiten. In Mexiko ist alles möglich. Das musst du wissen!“. Ein Amerikaner verkaufte ihnen zwei nebeneinandergelegen Grundstücke direkt am Strand.

Don Taco, Overlander Camping

Da sagte Franz zu seiner Frau: „Jetzt haben wir so ein großes Stück Land! Was wird jetzt passieren? Wir bauen ein schönes Haus und schauen jeden Tag auf das Meer. Und es ist jeden Tag dasselbe. Nach zwei oder drei Monaten streiten wir miteinander. Wir haben nichts zu tun! Ich habe eine Idee. Da machen wir einen schönen, kleinen und sauberen Campingplatz. Nur für Overlander. Vielleicht kommt einer oder zwei in der Woche. Dann können wir mal reden und uns unterhalten .“ Da sagte sie: „Gute Idee!“ „Und so haben wir das gemacht. Und bis heute warten wir auf den Tag an dem nichts zu tun ist ….“

Don Taco Overland Camping, Bahia San Agustin, Huatulco, Oax.