Der Ort an dem die Menschen zu Göttern werden, Teotihuacán, Mexiko

Wie lange ist der Weg, den man zurücklegen muss um zu den Göttern oder zu Gott aufzusteigen? Ein Menschenleben? Oder mehrere Menschenleben wie im Buddhismus? In Teotihuacán sind es zwei Kilometer. 

Teotihuacán

Die Ausgrabungsstätte liegt sechzig Kilometer nordöstlich von Mexiko City. Seit 1987 steht sie unter der UNESCO Weltkulturerbe. Zu Recht. Denn sie ist gewaltig, eindrucks- und geheimnisvoll. Wer war dieses Volk, das diese Bauwerke nach astrologischen Kenntnissen ausrichtete und erschuf? 
Nun, man weiß es nicht. Es sind keine Namen der Herrscher, der Priester oder des Volkes an den bemalten Wänden zu finden. Als die Azteken (14. – 16. Jahrhundert) eintrafen, war die Stadt bereits verlassen und zerstört. Sie berichteten den Spaniern, die Stadt sei von Riesen erbaut worden. Das klingt geheimnisvoll.

Der Ort an dem die Menschen zu göttern wurden

Der spanische Franziskaner Mönch und Missionar Bernardo de Sahagún (1500-1590) studierte in den Folgejahren das Leben und die Kultur der Azteken. Er lernte ihre Sprache Nahuatl. Vielleicht war es auch ein Übersetzungsfehler, denn er schrieb in seinen Aufzeichnungen: „Sie nannten den Ort Teotihuacán, weil er der Begräbnisplatz der Könige war (…), der Ort an dem die Menschen zu Göttern wurden.“. Auch das ist eine schöne Deutung. Mit diesen Gedanken im Kopf betrete ich die Ausgrabungsstätte.

Teotihuacán, eine Großstadt

In dieser riesigen Stadt lebten zwischen 250 vor Christus bis 700 nach Christus zwischen 100 000 bis 150.000 Menschen. Ihr Einfluss reichte bis ins heutige Guatemala. Und dann auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung ist die Stadt zerstört und in Flammen aufgegangen. Was war geschehen? Scheinbar nichts. Es finden sich keinerlei Hinweise auf eine kriegerische Auseinandersetzung oder eine Katastrophe. Wie kann das sein? Nun, wir kennen das Phänomen schon von den Olmeken und den Zapoteken. Auch sie verschwanden urplötzlich. Das lässt viel Raum für meine Phantasie.

Die Avenue de Champs Élysée in Teotihuacán oder…

Fast tausend Jahre Bautätigkeit lassen sich heute nachweisen. Der Stadt lag eine sorgfältige Planung voraus, an die sich die Bauherren jahrhundertelang gehalten haben müssen. Das ist erstaunlich, vergleicht man dies mit Europa. Denn unsere Städte und Denkmäler sind entsprechend ihrer Epoche gewachsen. Das kulturelle Zentrum liegt rechts und links einer zwei kilometerlangen und vierzig Meter breiten Nord-Süd-Achse. Die Prachtstraße startet im Norden mit der Pirámide de la Luna (Mondpyramide) und verliert sich Richtung Süden ins offene Land. Sie gleicht der Avenue de Champs Élysée in Paris. Diese ist siebzig Meter breit, 1910 Meter lang und genauso kerzengerade. Eine Champs Élysée im antiken Mexiko! Ich stelle mir vor, dass ebenso wie zu ihrer neuzeitliche Schwester jeden Tag Besucher kamen um die großen Bauwerke zu bewundern, zu shoppen oder Veranstaltungen mitzuerleben. Die Gebäudereste sind aufwändig gestaltet und lassen ahnen, welchen Glanz sie einst ausstrahlten.

 … die Straße der Toten

Der Höhepunkt dürfte gewesen sein, wenn ein König gestorben war. Die Azteken nannten die Straße Miccaotli (Straße der Toten) und die Spanier übersetzten sie in den Camino del Muertos. Tatsächlich fand man in der Mondpyramide mehrere Kammern mit menschlichen Skeletten. Aufgrund fehlender Inschriften weiß man allerdings nicht, ob wirklich die Herrscherfamilien hier begraben wurden. Die Pyramide ist 43 Meter hoch und Teil eines ganzen Komplexes, der als Mondplaza bezeichnet wird. Es ist beeindruckend. Alle Blicke von der zwei kilometerlangen Straße aus gipfeln in der Mondpyramide. Wenn es einen Ort gibt, an dem die Menschen zu Göttern wurden, dann sicherlich hier.  

Die verbotene Stadt von Teotihuacán

Es gibt eine weitere geheimnisvolle Ausgrabung. Die Ciudadela ist ein Gebäudekomplex mit einer umgebenen hohen Mauer, deren Seitenlängen etwa vierhundert Meter haben. In ihrem Inneren befinden sich Wohngebäude und ein zentraler Tempel. Es wird vermutet, dass dies eine höfische Anlage ähnlich der Verboten Stadt in Peking war. Nur in Miniatur. Die Ciudadela konnte einzig durch einen kleinen Eingang über die Straße der Toten betreten werden. Die Anlage ist immerhin so groß, dass auf dem innenliegenden Platz etwa hunderttausend Menschen Platz fänden. 

Teotihuacán, die Stadt der Superlative

Die Sonnenpyramide erhielt ebenfalls ihren Namen von den Azteken. Wie sie wirklich hieß und welche Betdeutung sie hatte, ist unbekannt. Sie ist mit einer Grundfläche von etwa 225 x 225 Metern und einer Höhe von etwa 63 Metern die drittgrößte Pyramide der Welt. Mir scheint, Teotihuacán ist die Stadt der Superlative! Die mächtige Pyramide war mit Kalkputz versehen und farbenprächtigen Malereien verziert. Es sollen laut der Azteken Bilder von Jaguarköpfen und -pranken, Sternen und Schlangenrasseln gewesen sein. Teotihuacán war sicher keine Stadt der Toten wie Mitla bei den Zapoteken. Diese glanzvolle Hauptstadt war ein kulturelles, politisches und wirtschaftliches Zentrum. In ihrer Blütezeit hatte sie eine Ausdehnung von zwanzig Quadratkilometer. Warum weiß man so wenig über dieses Volk?

Der Teotihuacán Measurement Unit (TMU)

Im neuen Museum unterhalb der Sonnenpyramide suche ich Antworten auf meine Fragen. Im Gegenzug zu den Mayas existieren keine schriftähnlichen Niederschriften. Zwar fanden die Archäologen Glyphen, aber wir können sie nicht lesen. Das macht die Deutung und Bestimmung so schwierig. 
Die Bauherren von Teotihuacán verwendeten eine eigene Maßeinheit, den Teotihuacán Measurement Unit (TMU). Er entspricht etwa 80-85 Zentimeter. Der TMU war das Längenmaß für alle Gebäude und Entfernungen. Es wird angenommen, dass die Maße sich ebenfalls auf wichtige kalendarische Ereignisse beziehen. Die Stadt ist im Schachbrett Muster angelegt. Sogar der Wasserkanal folgt diesem Muster.

Tonpüppchen – alte Bekannte

So konsequent die Bauherren arbeiteten, so kreativ waren die Künstler. In nahezu allen Gebäuden gibt es Wandmalereien. Sie sind die Hauptquelle für die Untersuchungen über das tägliche Leben der Bevölkerung. Allerdings wohnt in ihnen ein hohes Maß an Symbolik inne. Das nimmt man jedenfalls an. Im Museum treffen ich auf bekannte Figuren: Jede Menge kleine Tonpüppchen! Sie sind uns schon bei den Olmeken begegnet. Das ist das Volk mit den Kolossalköpfen. Die Riesen! Wie sagten die Azteken? Die Stadt sei von Riesen erbaut worden…? Es wird immer mysteriöser.