Ich habe schon sehr viele Ausgrabungsstätten der Maya-Kulter gesehen. Viele setzen eigene Schwerpunkte. Zum Beispiel die Pyramiden von Tikal sind auffallend hoch und schmal. Die wunderschön gelegene Ausgrabungsstätte Palenque fällt durch ihre kunstvoll gearbeiteten Steinreliefe auf. Und die riesige abgeflachte Bergkuppe von Monte Albán in Oaxaca fasziniert mich immer noch. Man könnte meinen, dass mich nichts mehr überraschen könnte. Weit gefehlt! Der „beerdigte“ Templo Rosalila war ein gut gehütetes Geheimnis.
Im moderne Museum der Ausgrabungsstätte Copán
Berni und ich besichtigen die größte Ausgrabungsstätte in Honduras. Copán liegt unweit der Grenze zu Guatemala auf etwa 600 Höhenmetern mitten im subtropischen Regenwald. Sie existierte von 250 bis etwa 900 n. Chr. und wurde dann verlassen. Warum weiß man nicht.
Entgegen unsere Gewohnheit beginnen wir diesmal unsere Besichtigungstour mit dem Besuch des angegliederten Museums. Manchmal ist es hilfreich, grundlegende Informationen vorab zu erhalten. Was ich in dem modernen Museum sehe, macht mich sprachlos: Es ist das reinste Gruselkabinett! Es wimmelt nur so von Gestalten zwischen Vogel, Schlange und Mensch, Totenköpfen und ähnlichem.
Der Templo Rosalila von Copán
In der Mitte der Museumshalle steht der eins zu eins Nachbau eines roten dreistöckigen Tempels. Seine dreidimensionalen Ornamente und Fratzen sind mit kräftigen Farben bemalt. Rot scheint die Lieblingsfarbe gewesen zu sein. Ich bin beeindruckt: So müssen die blassen Steinreste einst ausgesehen haben. Wie den meisten Besucher fällt es mir schwer die wahren Dimensionen zu erfassen. Ich trete interessiert näher. Über dem Eingang wacht ein Vogelwolf? An seinen Längsseiten tummeln sich Wesen mit Vogelfüßen? Was um Himmelswillen ist das?
Der besterhaltene Tempel Zentralamerikas
Der Templo Rosalila erhielt seinen Namen von seiner ungewöhnlichen Farbe lila-rot. Er wurde 571 n. Chr. erbaut und ist der am besten erhaltene Tempel Zentralamerikas. Denn er wurde von den Maya konserviert. Wie bitte?
Normalerweise wurden die Tempel oder Pyramiden bei einer (feindlichen) Übernahme zerstört und anschließend überbaut. Durch die Zerstörung brach man den Bezug zum ehemaligen Herrscher und, da das Material schon herumlag, nutze man es sogleich als Fundament für die eigene Präsentation der Macht. Nicht so dieses Kleinod.
Der Templo Rosalila wurde zeremoniell begraben
Die Räume, Leisten und Nischen des Tempels wurden mit Schlamm und Steinen aufgefüllt, und die gesamte Struktur mit einer dicken Schicht aus weißem Gips bedeckt. Das Heiligtum wurde quasi symbolisch einbalsamiert. Im Eingang befanden sich noch die Überreste von Opfergaben. Und dann überbaute man ihn. Warum? Keiner weiß es. Er schlummerte in seinem Grab unter der Akropolis bis ihn 1989 der honduranischen Archäologen Ricardo Agurcia Fasquelle entdeckte. Er erforschte die diversen Tunnelsysteme unter der Anlage und stieß auf das konservierte Gebäude. Wozu nutzten die Maya die Tunnel, deren Wände ebenfalls mit Fratzen und Schriften modelliert sind? Und was bedeuten die unmenschlichen Darstellungen?
Die Ausgrabungsstätte Copán
Das Gelände wird seit Mitte des 19. Jahrhunderts erforscht und steht seit 1980 unter UNESCO Weltkulturerbe. Die Ausgrabungsstätte erstreckt sich auf einer Fläche von rund 12 Hektar mit einem zentralen religiösen Gebäudekomplex und umliegenden Wohngebäuden. Berni und ich verbringen Stunden beim Erklettern von Stufen über- und unterirdisch und dem Bestaunen der vielen Stehlen. Es soll die Ausgrabungsstätte mit den meisten Stehlen überhaupt sein. Über unseren Köpfen kreischen Aras und Schmetterlinge umflattern uns. Es ist schön hier. Wäre da nicht die hohe Luftfeuchtigkeit, die Sonne, die Moskitos und die schmerzenden Füße!